Offene Räume
Emilia Hagelganz und Zofia Bartoszewicz im Gespräch mit Betty Schiel
Anfang 2015 formiert sich das Transnationale Ensemble Labsa in Dortmund. Mit dabei die beiden Theatermacherinnen Emilia Hagelganz und Zofia Bartoszewicz. Im Gespräch mit Betty Schiel resümieren sie ihre gemeinsame Theaterarbeit. Sie finden, dass es sehr gesund für jeden ist, von Zeit zu Zeit Situationen aufzusuchen, in denen wir einer Minderheit angehören.
Betty Schiel: Was ist eure Verbindung im Theater?
Emilia Hagelganz: In der Zusammenarbeit mit Zofia genieße ich es, nach Momenten von Leichtigkeit zu suchen, die auch eine Erleichterung mit sich bringen. Sie ist ein großes Vorbild für mich darin, Situationen mit Anspannung denkend und handelnd ins Gleichgewicht zurück zu rücken oder zumindest einen Impuls zu setzen. Wir bewerten uns nicht. Das heißt nicht, dass unsere Themen immer leicht daher kommen. Rund um die künstlerische Arbeit gibt es häufig Spannungen, und wir suchen nach Wegen, diese nicht in die Arbeit zu übertragen.
Zofia Bartoszewicz: (lacht) Mit mehr oder weniger Erfolg. Anspannung ist natürlich ein Teil unseres Lebens, aber bitte nicht zu lang.
Emilia: Wir vertrauen einander, und können so in unbekannte Situationen gehen. So wie beim Besuch im Wohnhaus Hirtenstraße in Dortmund im Rahmen des Workshops com-position in der Zusammenarbeit mit dem Tänzer Wojciech Marek Kozak und dem Musiker Ralf Tibor Stemmer. Der Wunsch zum Besuch der Wohnstätte für Menschen mit unterschiedlichen Körperlichkeiten war schon lange da.
Zofia: Ich denke, dass wir gerade an einem Punkt stehen, an dem wir nicht genau wissen, welche Schritte wir als nächstes machen werden. Ich habe viele Fragen, jedoch nicht genug Antworten für die Zukunft. Ich liebe an unserer Arbeit – und das ist die Basis –, dass wir nichts vortäuschen müssen, etwa dass wir eine bessere Version von uns selbst sind. Was bedeutet es für eure Theaterarbeit, wenn der Kontakt so persönlich ist? In Bezug auf die Proben und Produktionen und natürlich auch auf die Menschen, mit denen ihr zusammenarbeitet.
Emilia: Ich glaube für viele, die mit uns zusammenarbeiten ist es nicht immer einfach, so viele offene Fragen und das ganze Chaos zu ertragen, kurze Produktionszeiten und Überraschungen auf dem Weg. Es muss ständig improvisiert werden, und bis zum Schluss wissen wir oft nicht, was es wirklich wird. Im künstlerischen Prozess, wenn wir Material recherchieren, es entkleiden, collagieren oder auch neue Begegnungen anregen, fühlen die anderen das Vertrauen zwischen uns beiden, und ich denke es steckt an. Ist das euer Theater?
Zofia: Theater ist eine lebendige Begegnung zwischen Menschen. Das Theater bringt mich anderen Menschen näher. Welches Theater der Zukunft könnte für euch interessant sein?
Zofia: In unserer bisherigen Arbeit entdecken wir Schritt für Schritt, was es ist und was es sein wird. Ich hoffe auch in Zukunft zu lernen und zu entdecken. Die Situation soll nicht nur uns beide nähren und inspirieren, sondern alle Beteiligten. Aber ich weiß gerade wirklich noch nicht, wie unser Theater der Zukunft sein wird. Ich fühle nur, dass ich es in einem noch größeren Zusammenhang sehen muss, als es jetzt schon ist.
Emilia: Von Anfang an stand nicht die Form im Vordergrund. Wir haben die Theaterarbeit des Transnationalen Ensemble Labsa mit einem gemeinsamen Abendessen begonnen. Am Anfang gab es keine Erwartungen. Selbstverständlich kommen wir immer wieder an den Punkt, unsere Arbeit definieren zu müssen. Ich suche aber nicht nach der genialen Regieidee oder einer gewaltigen Bildsprache. In unserer Theaterarbeit verknüpfen wir die Welten, in denen wir uns bewegen, wie beim Besuch des Wohnhauses in der Hirtenstraße. In dem Haus macht Abe Jalloh – ein Mitglied unseres Ensembles – eine Ausbildung zum Pflegeassistenten. Er hatte einige Bewohnerïnnen zu unserer letzten Produktion L'empereur bei Oma Doris eingeladen. Danach war der Wunsch groß, die Menschen näher kennenzulernen und Abe's beruflichen Alltag und die Theaterarbeit miteinander zu verknüpfen. Zofia: Ich denke man braucht viel Mut, um sich mit einer ganzen Gruppe von Menschen in ungewisse Situationen zu begeben. Wir versuchen über das Vorgegebene hinaus zu handeln. Es ist uns in der Arbeit ganz wichtig, die Hierarchien so flach wie möglich zu halten. Wir versuchen Verantwortung für uns gegenseitig zu übernehmen. Wir decken auf, was uns verbindet. Emilia: Viele Menschen haben Einfluss auf meine Arbeit. Seit der Gründung des Transnationalen Ensemble Labsa im Jahr 2015 habe ich ein zweites Kind bekommen. Es war eine Zeit (und ist es immer noch), die viel von meiner Umgebung abverlangt. Dank der großen Solidarität der Kolleginnen wie Anna Buchta, Lena Tempich, Zofia Bartoszewicz, Betty Schiel, Erdmute Sobaszek und Lisa Domin konnte ich die Arbeit nach der Entbindung weiter fortführen – mit einem Kind an der Brust. Es gibt inspirierende Frauen, die viel Energie in diese Arbeit hineingeben. Ich genieße wirklich, dass es in unserer Zusammenarbeit nicht absichtlich zu Provokationen kommt. Ich bin in anderen Theaterzusammenhängen und auch in der Schauspielausbildung oft in die Situation gebracht worden, wo jemand über Provokation meine Leistungen steigern wollte, um mich so zum Ziel zu führen.
Zofia: Es ist eine intensive Zusammenarbeit ohne Konkurrenz. Ich brauche hier nicht besser zu sein als jemand anderes; ich will mein Bestes geben, jedoch nicht besser sein. Die Menschen, mit denen ihr zusammenarbeitet, haben fast alle einen Migrations- oder Fluchthintergrund, es scheint mir aber, dass die Flucht selbst nicht ein so großes Thema in der Arbeit ist. Jeder bringt dennoch den persönlichen Hintergrund in die Arbeit ein.
Emilia: Für mich ist es das Interessanteste an der Theaterarbeit, wenn unsere eigene Biografie ein Teil davon sein kann. Das muss nicht heißen, dass ich nur mich und die anderen als Thema ansehe. Die Arbeit ist sozial und politisch zugleich, denn das Persönliche ist politisch. Jeder von uns ist im Leben schon mal vor etwas geflohen. Ich möchte mit der Aussage nichts relativieren. Vor allem nicht die Erfahrungen, die die Menschen machen, wenn sie sich in Lebensgefahr begeben müssen, um aus einer Situation herauszukommen. Und doch ist es interessant, dass das Gefühl einer Minderheit anzugehören, fast jeder von uns im Ensemble kennt. Es ist sogar sehr gesund für jeden von Zeit zu Zeit Situationen aufzusuchen, in denen wir einer Minderheit angehören. Mit den Augen der Minderheit die Welt zu betrachten, ist so etwas wie den historischen Trend umzukehren und den Status Quo zu beenden. Stell dir mal vor, man würde die Titelseiten und Aufmacher, Ministerien und Entscheidungsposten den Frauen und Minderheiten als intellektuelles Experimentierfeld überlassen. Sie sollen die Themen entscheiden, den Blickwinkel, die Botschaft. Ich denke es wäre zumindest ein couragierter Schritt, um die allgemeine Ermüdung zu bekämpfen.
Zofia: Ich kenne nicht alle persönlichen Geschichten der Ensemble Kollegïnnen. Das war auch nie das Ziel der Theaterarbeit. Das Ziel war zusammen zu sein und sich dabei gut zu fühlen. Für mich haben die Orte wie das AWO-Wohnhaus, das Gefängnis oder auch unser Tomorrow Club Kiosk etwas gemeinsam: Ich fühle mich bei den Menschen an diesen Orten willkommen.Die Bewohnerïnnen in der Hirtenstraße beispielsweise wollten uns da haben. Sie haben uns erwartet. Wir trafen uns zum ersten Mal, aber sie empfingen uns wie gute Freunde. Es gab da keinen Druck von außen. So verlieren wir keine Energie mit Spannungen. Unsere inneren Kritiker schweigen, weil wir ihnen gar nicht mehr zuhören. Wir sind als Partner verbunden, wir alle lernen etwas und tauschen uns aus. So können wir gleichzeitig geben und nehmen. All das ist wichtig für mich in unserer Arbeit. Ist das unsere gemeinsame Zukunft: Wechselseitigkeit – Geben und Nehmen? Zofia: Wir kooperieren miteinander. In diesem Moment an diesem Ort bauen wir eine kleine Gemeinschaft auf. Das spüre ich auch manchmal mit unserem Publikum, und das ist für mich etwas Besonderes: Wir sind wirklich zusammen. In diesem Moment spüre ich, dass wir eine gesunde Gemeinschaft sind. Auch wenn es nur für eine Stunde ist.
Emilia: Unsere Vorbereitung für den Besuch in dieser Wohngruppe war ein Kompositions-Workshop. Komposition heißt ja nichts anderes als Elemente zusammenführen. Wir haben uns mit Bewegung, Stimme und Geräuschen auseinandergesetzt. Es war eine dreitägige intensive Gruppenarbeit und wir waren sehr aufeinander abgestimmt. Ich erinnere mich an eine Übung sehr gut, die Wojciech angeleitet hat. Wir liegen im Kiosk auf dem Boden mit geschlossenen Augen und haben die Aufgabe, uns körperlich auf die Geräusche um uns herum einzulassen. Es war inspirierend, konkrete körpereigene Geräusche, wie den Herzschlag oder das fließende Blut in den Adern neben dem Abfluss der Nachbarn oder den Stimmen der Passanten wahrzunehmen und diese in eine Bewegung umzusetzen.
Zofia: Wir sind im AWO-Wohnhaus angekommen und haben gemeinsam Kaffee getrunken. Wir haben unseren eigenen Raum dort geschaffen, Tische und Stühle so umgestellt, dass die Mitte des Raumes frei blieb. Es war wichtig, den Raum zu öffnen.
Emilia: Diese Menschen geben der Arbeit Energie. Ich identifiziere mich mit großer Freude mit Menschen, die aus der Welt gefallen sind. Menschen, die mit ihren Geschichten Paradigmenwechsel bei mir hervorrufen. Ich habe junge Menschen kennengelernt, die ihre Ehe arrangieren lassen auf die Empfehlung oder den Druck der Eltern. Man kann darüber unterschiedlicher Meinung sein, aber die Tatsache, dass ich persönlich mir meinen Partnerïn selbst aussuchen kann, muss nicht bedeuten, dass es keine anderen Optionen im Leben gibt. Ich habe junge Menschen erlebt, die stundenlang tausende Kilometer voneinander entfernt mit einer Person per Telefon ihren Alltag und Liebkosungen teilen, ohne sich jemals wirklich begegnet zu sein. Es ist anders, aber nicht falsch.
Was ist die Rolle der Zuschauer in dem Ganzen?
Emilia: Auf jeden Fall ist das Publikum nicht unser Feind. Wenn man auf der Bühne steht begegnet man verschiedenen Menschen – manchmal auch solchen, die intellektuell herausgefordert werden wollen. Dabei bildet sich eine Mauer, und es kommt zu keiner Begegnung. Es ist eher eine schmerzhafte Erfahrung für alle Beteiligten. Ich möchte hier jedoch über positive Erfahrungen sprechen, wie nach einer Aufführung im Rahmen der Duisburger Akzente im interkulturellen Ladenprojekt 47 in der Münzstraße. Eine Zuschauerin kommt auf uns zu und sagt: „Ich bin wirklich kein Bühnenmensch, aber nach diesem Stück will ich unbedingt mit euch Theater spielen.“ Dies sind wichtige Momente, es entsteht etwas zwischen uns.
Sollen die Zuschauer aktiv dabei sein?
Zofia: Aktiv im Geist und der Seele. (lacht)
Emilia: Es ist nicht unser Ziel, partizipatives Theater zu machen. Aber manchmal inspiriert es Menschen um uns herum. Das ist doch schön.
Zofia: Ich bin froh, dass wir manche Dinge, so wie bei der Eröffnung des Festivals Bodies in Trouble auf PACT Zollverein gemeinsam tun können. Einige geladene Gäste wurden gebeten, ihre Arbeit in fünf Minuten vorzustellen. Um die Frage nach unserer Theaterarbeit über das Thema DNA zu beantworten, sind wir alle auf die Bühne gegangen und haben spontan ein Lied angestimmt: Chromosom – ein schönes Mantra; da steckt zweimal OM drin. Vielleicht war es für einige Zuschauer idiotisch, aber ich bin da anderer Meinung. Für mich war es ein neues Element in einer großen Struktur. Und das ist unsere Arbeit. In der Luft lagen eine große Anspannung und Erwartungen. Nun wird es ernst. Wir machen auch ernste Sachen, aber mit Humor. Ich bin wirklich froh, den großen Erwartungen etwas entgegensetzen zu können.
Emilia: Das kleine Lied war wie eine Nadel, die einen prallen Ballon zum Platzen bringt.
Zofia: Das bedeutet nicht, dass wir provozieren wollen. Zumindest ist es nicht unser Ziel. Das Ziel ist es, etwas auf unsere eigene Art und Weise zu tun.
Ich erinnere mich, dass einige im Publikum anfingen zu lachen; ich dachte, sie entspannen sich jetzt. Und die Moderatorin sagte: „Oh, das war jetzt recht überraschend!“
Zofia: Ja, und alles fand im Zentrum für Performance Kunst statt. Da, wo du alles machen kannst, aber nicht unbedingt unerwartet.
Für mich persönlich war es etwas seltsam. Erstens kann ich nicht singen. Und es war ein sehr distinguiertes Publikum. Jemand vom Ministerium war anwesend, Politikerïnnen und so weiter, und ich gehe mit euch auf die Bühne und singe: „Chromosom“.
Zofia: Für mich ist es ein Beispiel dafür, was wir tun können und zu merken, wo unsere Kraft liegt. Auf eine bestimmte Art waren wir dort eine Minderheit. So konnten wir etwas von uns, ein fremdes Element hinzufügen, auf jeden Fall ein fehlendes Element in der großen Struktur. Als denkende und fühlende Künstlerïnnen stellen wir das Paradigma, auf dessen Grundlage wir erzogen wurden, in Frage: das patriarchale System, die Dominanz des Intellekts über den ganzheitlichen Menschen, die Bereitschaft, andere unterzuordnen oder sie zur Erreichung eigener Ziele auszunutzen; die eurozentrische Vorstellung von der Allgemeingültigkeit der westlichen Kultur. Gleichzeitig untersuchen wir, inwieweit wir diese Paradigmen weiterhin in uns tragen.
Emilia: Ich habe für mich persönlich etwas Wichtiges herausgefunden. Letzten Sonntag besuchte ich die Vorstellung "Dying Together" (Konzept und Regie ist von Lotte van den Berg). Die Performer auf der Bühne schlagen dir als Zuschauerïn immer wieder Rollen vor, die du übernehmen könntest. Mehrmals wurde ich gefragt, ob ich diese oder jene Person darstellen möchte, und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich bewusst „Nein“ sagen. Ich habe eine lange Zeit im Leben dazu gebraucht „Ja, ich will“ oder „Nein, ich will nicht“ auszusprechen – Ich meine wirklich tief aus mir heraus es direkt jemandem mitzuteilen, ohne mich zu schämen oder schlecht zu fühlen. Die eigenen Helden zu begraben, ist ein langer und langsamer Prozess und es hat viel mit der Vergangenheit zu tun. Ich merke dieser Schritt ist wichtig, um mich zu emanzipieren, mein Selbst zu bilden und für OUR COMMON FUTURE.
Zofia: Emi leitet die Arbeit des Transnationalen Ensembles im Alltag, also werden sich ihre eigenen emanzipatorischen Prozesse auch auf die Gruppe auswirken. Auswirkungen auf die Umgebung sind der Lauf der Dinge, wenn mir etwas wichtig ist und es in mir arbeitet. Menschen, die solche Räume schaffen, bringen auch mentale Räume hervor – letztere sind zwar unsichtbar, aber einflussreich. Diese mentalen Räume bringen Möglichkeiten hervor. Emi, du wolltest etwas mit den neu angekommen Menschen in Dortmund tun und mit deinen Gefühlen dazu, die dir selbst weh taten. Es war sehr schwierig für dich persönlich. Kannst du dich erinnern? Und das war der Anfang einer wundervollen inzwischen fünfjährigen Arbeit. Etwas, das für dich wichtig ist, kann auch wichtig werden für viele andere Menschen. Es hat uns allen den Impuls gegeben etwas zu tun. So baut sich unsere Arbeit aus; wir haben Fragen und wir tun etwas damit. Schritt für Schritt. Diese Theaterarbeit ist die Antwort auf eine Frage, die du vor langer Zeit gestellt hast. Ich liebe es.