Im Theater ist alles Zukunft
Betty Schiel im Gespräch mit Alessandro Anderloni
Nach einem dreitägigen Theater-Workshop im Tomorrow Club Kiosk erläutert Alessandro Anderloni Gedanken über unsere gemeinsame Zukunft und welche Rolle Theater für ihn darin spielt.
Betty Schiel: Was fällt dir ein zu dem Titel OUR COMMON FUTURE in Bezug auf Theater?
Alessandro Anderloni: Das Wort COMMON ist für mich wichtig, weil wir zusammen sind – manchmal sind wir ja auch zufällig zusammen. Ich bin zum Beispiel hier in Dortmund, weil wir uns zufällig in Bozen kennengelernt haben. Du hast mich eingeladen, und ich habe sofort verstanden, dass ich hier etwas Interessantes mit Menschen machen kann. COMMON ist auch genau das, was Theater macht: Menschen, Stimmen, Geschichten kommen zusammen, Kulturen, Religionen, Hoffnungen und lebendige Projekte. Deshalb bedeutet OUR COMMON FUTURE gleichzeitig OUR COMMON THEATRE. Im Theater brauchst du mindestens zwei Leute: einen, der spielt und einen, der schaut. Es ist nicht möglich allein Theater zu machen. COMMON FUTURE bedeutet Zukunft. Im Theater ist eigentlich alles Zukunft. Was jetzt passiert, heißt etwas für die Zukunft zu inszenieren. Wenn du einen Stuhl baust, ist er irgendwann fertig. Aber im Theater ist es immer ein Prozess, die Zukunft zu bauen. Theater ist eine große Möglichkeit. Im Leben ist es nicht sicher, dass eine Möglichkeit zwei Mal kommt. Wenn ich mit Jugendlichen in den Schulen arbeite, sage ich immer: Ihr habt hier eine Möglichkeit, und ich auch. Deswegen liebe ich dieses Theater in den Schulen. Labsa ist auch eine große Möglichkeit, Theater zu machen: für die Jugendlichen, für uns. Es kann sein, dass sie in dieser Form nie wieder zusammen kommen werden. Sie sind sozusagen frei. Sie haben noch keine Familie, und das ist nicht nur schade. Vielleicht werden sie Kinder bekommen und eine Arbeit haben. Die Freiheit, Theater zu machen, entsteht, weil sie jung sind und sie hier zusammen kommen. Vielleicht ist es notwendig und nützlich. Aber nicht für alle. Beim Workshop von labsa waren etwa 15 junge Leute. Und wie viele Jugendliche gibt es in Dortmund? Diese 15 jungen Menschen haben sich entschieden, Theater zu machen.
Neben deiner Theaterarbeit in Schulen, arbeitest du auch in deinem Dorf mit den Nachbarn und im Gefängnis von Verona mit den Insassen. Was ist für dich daran interessant, mit Laien zu arbeiten?
Alles begann in meinem Dorf. Ich habe angefangen, Theater mit den Leuten in meinem Dorf zu machen. Wir waren alle keine Schauspieler als ich jung war. Ich war auch kein Schriftsteller. Aber als ich 18 Jahre alt war, habe ich mein erstes Stück geschrieben, ohne zu wissen, was ich da mache. Niemand hat mir erklärt, du musst die Szene in einer bestimmten Weise aufbauen, dann die Charaktere entwickeln usw. Ich suche die Persönlichkeit im Schreiben – wie viel oder wenig braucht sie? Die Wahrheit der Person: was jemand ist, fühlt, was er geben will, was er sucht. Und vielleicht weiß er oder sie nicht, was sie suchen. Das kann man sehr gut mit nicht-professionellen Leuten machen. Profi-Schauspieler wissen schon, was spielen und ein Stück zu inszenieren bedeutet. Mit ihnen zu arbeiten ist etwas anderes. Mit Laien, ist immer alles am Anfang und alles ist neu. Mit ihnen zu arbeiten bedeutet auch ein bisschen frei zu sein. Sie sind bereit, etwas Neues zu machen. Sie vertrauen mir oder finden dieses Vertrauen. Das ist wichtig, weil sie dann sagen, was sie denken, wollen, glauben. Wenn sie glücklich sind, gelangweilt oder böse, will ich das sehen.
Die jungen Leute vom Transnationalen Ensemble Labsa sind ein gutes Beispiel. In dem Workshop mit ihnen hast du deine Arbeitsweise gezeigt. Kannst du sie beschreiben?
Bei Labsa habe ich sofort bemerkt, dass diese Jungen neugierig sind. Sie sind offen, sie warten nicht auf mich, weil ich Alessandro Anderloni bin. Sie warten auf etwas Neues, das sie erleben können. Oft gibt es in der Arbeit einen gewissen Abstand; den habe ich hier überhaupt nicht gespürt. Die Atmosphäre bei Labsa ist besonders. Labsa hat die Schaufenster geöffnet. Die Leute auf der Straße können sehen, was wir machen, manchmal fragen sie nach. Hier findet Arbeit statt. Wir haben kaum über unser Leben gesprochen, aber trotzdem ist ganz viel herausgekommen. Und ich habe bemerkt, dass die Jugendlichen schon Theatererfahrung haben: Sie haben getanzt, gesungen. Sie sind sehr schnell. Interessant ist dabei: Sie korrigieren nicht mein schlechtes Deutsch oder das der anderen. Das ist doch schön. Niemand ist Deutsch, aber wir sprechen Deutsch. Und die Atmosphäre ist so, dass alles funktioniert. Auch wenn die Teilnehmer verspätet kommen, ist das normal. Sie wollen einen Kaffee trinken? Dann machen sie einen. Das funktioniert. Nicht forzato, sondern normal. Ich finde diese Einladung wirklich interessant; sie gibt mir neue Perspektiven.
Für mich ist wertvoll in dieser Gruppe, dass alle aus sehr unterschiedlichen Kontexten kommen, sowohl vom Alter, von der Herkunft, von den diversen Lebensgeschichten, die man hier teilen kann. Dann kommt mehr dabei heraus. Der öffentliche Diskurs in Deutschland wendet sich gegen Geflüchtete oft mit dem Tenor: „Sie kommen und nehmen uns alles weg.“ Labsa ist ein Ort, wo man genau das Gegenteil spürt. Die Jugendlichen sind bereit und neugierig, und hier ist eine Möglichkeit, dass sie sprechen können und sich zeigen können, und so entsteht eine neue, starke Energie.
Wenn wir über Migration sprechen, sind wir immer voller Vorurteile. Die Medien und wir selbst sind voller Wörter, Ideen, Vorurteilen. Wir müssen einen leeren Raum finden, wie Peter Brooke uns gesagt hat. Ein leerer Raum und dann am Anfang beginnen. Das ist für mich sehr wichtig. Ich habe auch eine Geschichte, aber wir müssen nicht immer bei unserer eigenen Geschichte anfangen. Und die erste Frage an Geflüchtete in Deutschland oder Italien ist immer „Wie heißt du? Woher kommst du? Wie lange bist du schon hier? Wie bist du hergekommen? Schiff? Geschwommen? Geflogen?“ Immer dieselben Fragen. Ibrahim hat in der Probe gesagt: „Ich bin Deutscher.“ Mit seinem Sierra Leone-Deutsch. Das war super. „Ich bin Deutscher. Ich bin hier. Ich spreche Deutsch.“ Leerer Raum und leerer Kopf. Die Jungs haben später freiwillig etwas über ihre Geschichte erzählt. Aber Theater ist kein Interview. Wir haben uns am Anfang in diesem Workshop in einem Spiel vorgestellt. Wir haben uns als Speisen in Gesten und Geräuschen vorgestellt. Damit lässt sich gut beginnen und das ist was ganz anderes als seinen Namen zu nennen. Wir können auf diese Weise auch etwas vergessen. Einer der Teilnehmer hat gesagt, für ihn sei Theater ein Ort, seine Probleme und seinen Stress zu vergessen. Darum geht es auch – seine Geschichte zu vergessen.
Im Gefängnis zum Beispiel haben die Insassen ein Karussell im Kopf; sie denken immerzu daran, dass sie im Gefängnis sind und weiter da bleiben müssen. Sie denken an die Familie, wie es wird, wenn sie raus sind … sie denken immer, immer, immer. Tag und Nacht. Wenn wir eine Stunde proben, sagen sie, dass sie manchmal zehn Minuten nicht ans Gefängnis gedacht haben. Im Gefängnis sind zehn Minuten viel.
Du hast gesagt „Theater ist kein Interview“. Wir fragen hier bei Labsa auch nicht als erstes nach der Fluchtgeschichte. Oder im Gefängnisprojekt: „Was haben sie für eine Straftat begangen?“ Ich versuche über Kunst und Kultur mit den Gefangenen eine menschliche Begegnung zu kreieren. Das ist ein schmaler Grat. Unsere Leben sind sehr verschieden und wir haben nur einen kurzen Moment, in dem eine Begegnung möglich ist. Wenn das gelingt, dann spüren alle, dass es extrem wertvoll ist, weil es selten passiert. Welche Erfahrungen hast du in der Gefängnisarbeit gemacht?
Einige Zuschauer, die ins Gefängnis kommen, um unser Stück zu sehen, recherchieren anschließend die Namen der Gefangenen im Internet. Das ist unglaublich. Sie sagen dann: „Aber Mario hat seine Frau getötet! Wusstest du das nicht? Er hat sie so und so getötet!“ Manchmal erzählen mir die Zuschauer, was meine Schauspieler gemacht haben. Sie sind neugierig, aber es ist keine schöne Neugier, das ist Voyeurismus – Zirkus machen, auf Italienisch la donna cannone. Ich gehe ins Gefängnis, um ein exotisches Phänomen zu sehen: Das Monster, das Theater macht. Natürlich will ich diese Menschen überhaupt nicht wie Phänomene zeigen. Aber das ist ein schmaler Weg. Denn die Körper dieser Leute sprechen: sie haben Tattoos, schlechte Zähne – da wäre es einfach, sie nackt zu zeigen. Man muss diese Menschen immer respektieren, darf sie nicht instrumentalisieren und verletzen. Sie möchten sich zeigen. Aber ich muss das ein bisschen zurück halten, weil es im Gefängnis einfach ist, pathetisch zu werden: „Wir sind die Armen. Niemand hört uns. Warum?“ Die teilnehmenden Insassen versuchen, etwas für sich rauszuschlagen. Theater im Gefängnis ist ein Moment, wo alle still sind, und der Gefangene spricht. Man hört ihm zu.
In den Gefängnissen, in denen ich Kulturarbeit mache, sind die Rollen klar verteilt. Da sind die Gefangenen, dann gibt es die Beamtïnnen, die über ihre stetige Präsenz auch Teil des Projekts sind. Und dann sind wir da, ich und die Künstlerïnnen, die ich einlade. Wir sind für Personal und Insassen ein bisschen wie Clowns oder Verrückte, die da reinkommen und was Neues mitbringen. Daraus ergibt sich im besten Fall manchmal ein subversiver, offener Raum.
Am Anfang habe ich sofort gemerkt, dass sie wissen, wer ich bin. Wir sind durchsichtig. Das ist kompliziert. Ich sage immer, dass ich komme um Theater zu machen und nicht um sie wie ein Samariter zu retten. Wir machen etwas Kleines, das Spaß macht, aber Theater bitte. Am Anfang fragen sie nichts, sie sind nicht neugierig. Bei uns sind während der Proben keine Beamten anwesend, was ich sehr wichtig finde. Die Gefangenen kommunizieren viel mit den Augen. Wenn wir uns begrüßen, bemerken sie sofort, wie man drauf ist. Das Ende der Probe ist auch sehr wichtig. Am Ende gehen sie in die Zelle, und du gehst raus. Für die Gefangenen beginnt dann wieder das Karussell im Kopf. Ich schaue dagegen auf mein Handy und gehe zum nächsten Termin.
Nach der Vorstellung sind wir alle gleich aufgeregt; aber ich kann dann noch spazieren gehen oder ein Bier trinken. Die Gefangenen gehen in die Zelle und trinken Apfelschorle. Ein einziges Mal durfte ich drei Flaschen Wein mitbringen, und sie waren wie Kinder. Einmal haben wir gekocht. Ich habe dafür eingekauft. Ein Gefangener hatte mir eine Liste mit genauen Anweisungen gegeben: „Du musst bei Mohammed Ali in der 21 Septembre Straße Nummer 2 sagen, dass Ibrahim gesagt hat, genau dieses Fleisch zu kaufen …“ Sie haben dann gekocht. Obwohl ich viel Fleisch gekauft hatte, war kein Fleisch mehr im Couscous. Sie hatten das schon vorher gegessen. Das kann passieren.
Die Gefangenen berühren sich sehr viel. Auch unter Männern fassen sie sich an und küssen sich. Das ist schön. Sie brauchen Kontakt und Gefühle. Nach einer Vorstellung habe ich den Schauspieler Mustafa umarmt und ihm gratuliert. Er hat da nichts gesagt. Wenn etwas wichtig ist, sagen sie nichts. Nach zwei Monaten sprach Mustafa mich darauf an. „Es ist acht Jahre her, dass ich jemanden gefühlt habe, der mich mit Liebe anfasst.“ Acht Jahre sind ein Leben. Ich weiß nicht, wo Mustafa jetzt ist. Es war ein Moment, in dem die Beziehung total stark war. Wenn die Insassen aus dem Gefängnis rauskommen, treffe ich sie draußen manchmal zufällig. Es ist unmöglich dann wieder zu finden, was wir zusammen im Gefängnis erlebt haben, weil alles anders ist.
Ganz am Anfang des Gefängnis-Projekts hat die Sozialarbeiterin zu mir gesagt, dass ich darauf achten muss, in welcher Stimmung die Insassen nach unserer gemeinsamen Arbeit wieder in ihre Zelle gehen. Sie müssen mit einem guten Gefühl da rein gehen. Das ist meine Verantwortung. Ich kann sie nicht retten, und das will ich auch nicht.
Im Gefängnis ist ein Problem für die Insassen, dass sie gezwungen sind, Intimität zu teilen, sich zu waschen, mit einer anderen Person in einer Zelle zu übernachten. Von einem Tag auf den anderen kann jemand Neues in deine Zelle ziehen. Du musst dich mit drei Meter Abstand waschen, essen, riechen… Für die Insassen ist Schlafen ein Problem. Ich habe einmal Ohrstöpsel mitgebracht. Sie waren total glücklich. Einer sagte, sein Leben sei verändert, weil er zum ersten Mal schlafen konnte. Das ist etwas Kleines. Oder sie fragen nach Musik, weil ich CDs für das Theaterstück mit rein nehmen kann. Wenn ich sage, ich habe dafür keine Zeit, akzeptieren sie das nicht. Ich weiß, dass sie in der nächsten Woche schon auf die CD warten.
Wie entsteht der Text für eure Theaterarbeit?
Das ist immer anders. Wir sprechen am Anfang viel, manchmal zu viel. Die Gefangenen wollen sich nicht bewegen oder spielen, das scheint für sie sehr anstrengend zu sein. Sie machen zwar Sport, aber wenn sie zum Theaterspielen kommen, sind sie müde. Wenn sie sagen, dass sie sich nicht gut fühlen und Kopfschmerzen haben, ist das immer eine Ausrede und bedeutet, dass sie kein Theater machen wollen. Es ist heikel, über das Gefangensein zu sprechen. Wenn du über Bäume reden willst, sagen sie: „Wir haben keine Bäume hier. Nichts ist grün.“ Wenn man über Familie spricht, beklagen sie, dass sie telefonieren müssen, aber das nicht geht. Wenn man über Geld spricht sagen sie: „Wir haben kein eigenes Geld hier drinnen.“ Weil sie meist negative Dinge über das Gefängnis sagen, muss ich immer einen anderen Weg nehmen. Manchmal bringe ich einen kurzen Text mit, den wir lesen. Sie sind meist zunächst überhaupt nicht interessiert, aber später fragen sie dann eventuell nach. Man sieht dann ein Licht in die richtige Richtung. Manche Insassen haben Verständnisschwierigkeiten, weil sie kaum Italienisch sprechen. Dann muss man das übersetzen und erklären. Ich versuche Szenen zu improvisieren. Wir spielen den Text. Was könnte hier passieren? Aber Improvisation ist auch anstrengend. Die Gefangenen sind wie Kinder. Kinder wollen immer etwas Neues. Die Energie geht runter, wenn man in der nächsten Woche mit demselben Text kommt. „Das haben wir schon gelesen“, sagen sie dann. Wenn ich einen Zugang finde, schreibe ich den Text oder manchmal schreiben sie auch selbst etwas. Letztes Jahr haben wir für Weihnachten ein kleines Stück inszeniert darüber, was sie sich wünschen oder verschenken möchten. Das war sehr schön, weil sie die Wahrheit gesagt haben. Ich nehme dann alle diese Geschichten und dann kommen die Dramaturgie und die Regiearbeit. Wir haben schwarze Kulissen gebaut, um eine Theateratmosphäre zu erzeugen. In der Holzwerkstatt können weitere Dinge gebaut werden. Ich habe nur ein Mal einen Klassiker inszeniert. Im Prinzip entstehen für alle Arbeiten neue Texte.
Das ist ein Unterschied zu den Jugendlichen bei Labsa, dass die Gefangenen so müde und zäh sind.
Was jetzt im Gefängnis passiert, werden wir in etwa 15 bis 20 Jahren viel mehr in Europa erleben. Denn dort sind schon jetzt so viele verschiedene Kulturen und Religionen komplett gemischt. Das ist die Welt. Das ist OUR COMMON FUTURE. Bei Labsa wird das auch schon vorweggenommen. Theater kann unsere Zukunft sein, wenn wir eine Perspektive öffnen, Raum schaffen für Sehnsucht und Nostalgie. Bei Labsa wird unsere gemeinsame Zukunft bereits gelebt. Das haben die beiden Projekte „Transnationales Ensemble Labsa“ und das Gefängnistheater gemeinsam.