Fliegen Frieden Freiheit

Nestor Yahi Gahe: Die Körper sind schneller bereit, sich zu begegnen, als der kognitive Verstand

Was können wir in einem Tanz- und Puppenspiel-Workshop über unsere gemeinsame Zukunft lernen? Der Tänzer und Choreograph Nestor Yahi Gahe forscht nach Wegen der Vermittlung, wie wir in einer Gesellschaft, die aus tausenden Absichten, Idealen, Lebensweisen und Kulturen besteht, durch den Tanz zusammenkommen und uns als Menschen begegnen und berühren können.

Nestor Yahi Gahe ist mit einem Team der Großpuppe DUNDU im Rahmen von OUR COMMON FUTURE im Tomorrow Club Kiosk in Dortmund. Für einen Tag wird das Transnationale Ensemble Labsa und Gäste unter seiner Regie tanzen und das Spiel mit den kleinen DUNDU Puppen kennenlernen.

Im ersten Teil des Workshops dürfen wir uns bewegen und man merkt schnell, dass Nestor – aus der Elfenbeinküste kommend – Sprache in seinen Ansatz für die interkulturelle Arbeit integriert hat. Zunächst explorieren und berühren wir gegenseitig unsere Schultern, Ellenbogen, Handgelenke, Hüften, Knie und Fußgelenke und kommen so in ein Warm-up, das den ganzen Körper ins Rotieren bringt und gleichzeitig zum Sprechen bringen soll. Gar nicht so einfach findet Yacouba das „Bewegen und Überlegen“. Dann arbeiten wir mit Wechselpräpositionen. „Jeder, der Deutsch lernt, weiß, wie schwierig das ist.“ Wir probieren mit unseren Händen die räumlichen Beziehungen von: hinter, vor, über, neben, unter, auf. Und dann bewegen wir sie mit unseren Körpern im Raum. Erst in Paaren und dann in zwei Gruppen entsteht erstaunlich schnell ein lebendiger Tanz. Da ist plötzlich ein körperliches Bewusstsein für die Verhältnisse zueinander. Die Teilnehmerïinnen sind sensibel für die Mittänzerïinnen und für den Raum. Dann fordert Nestor uns auf, auch die wechselseitigen Beziehungen wahrzunehmen, nämlich das hintereinander, voreinander, aufeinander, nebeneinander, übereinander und untereinander. Jetzt werden Reziprokpronomen getanzt! Hier wird eine intensive Gruppendynamik und organische Bewegungsqualität sichtbar und spürbar. Und die Feedbacks der jeweils zuschauenden Gruppen klingen so: „Da kreieren sich Geschichten im Kopf. Wir können in euch spazieren gehen. Die haben sich als Gruppe gefunden.“

Nestor benutzt dafür den Begriff der „dynamischen Architektur“. Und das passt. Hier bilden wir mit der dynamischen Struktur (unserem Körper) in seiner Einzigartigkeit und der Einzigartigkeit der anderen ein größeres Ganzes: ein vieldimensionales Bild, das fantastisch, verblüffend und schön eben durch die Vielfalt seiner Teile ist. Der Einzelne wird dabei in seinem Wesen, in seinen Vorlieben und Prägungen nicht angegriffen – im Gegenteil: Jede*r ergänzt diese Architektur mit seinem individuellen Aspekt.

Wenn ich diese Bilder, diese Tänze auf die „Architektur der Gesellschaft“ übertrage, dann stimmt das optimistisch! Wie toll, dass wir so beweglich sind, innen wie außen. Wie toll, dass wir diese Fähigkeit haben, uns in einer Gruppe ebenso beweglich zu fühlen, zu arrangieren, zu gestalten, zu kreieren und darüber zu sinnieren, uns (von Sprache) bewegen zu lassen. Wir sind kreative Wesen, wir schaffen dieses Kunstwerk „Gesellschaft“, diese multidimensionale Kultur. Die Anlage dafür ist in uns. Sind wir.

In der Pause essen wir ivorisches Essen, trinken eritreischen Kaffee und stärken uns so für den zweiten Teil des Workshops, in dem die Puppe DUNDU ins Spiel kommt.

Jetzt werden wir als organische Gruppe gemeinsam etwas bewegen, einen weiteren Körper. Fünf Spieler braucht es pro Puppe, die an Stöcken geführt wird. Zunächst bleiben die Stöcke aber weg, die Spieler sollen die Figur erst mal mit ihren Händen führen. Und es gibt keine Einweisung in die Technik des Puppenspiel. „Wir schauen einfach mal zu und gucken, wie die Menschen sich verhalten, wie sie sich organisieren miteinander, als Gruppe, die ein Ziel hat und dann schauen wir, was funktioniert und was nicht.“

Um diesen Körper in Bewegung zu bringen, muss er berührt werden und jede*r hat ein Teil des Ganzen in seinen Händen. In einem ersten Feedback merkt man, dass es gut funktioniert, wenn man einfach macht, ohne zu überlegen. Impulse von Einzelnen werden aufgegriffen und ergänzt. Man muss wach sein für diese Interaktionen, und dann bekommt die Puppe schnell ein Eigenleben. Die Szenen sind eher abstrakt und die Figur fügt sich als Teil der Gruppe in organische Bewegungsabläufe. Dann kommen die Stöcke als Führungshilfen ins Spiel. Die Puppe bekommt mehr Raum und es erfordert mehr technisches Spiel. Sofort werden menschliche Gesten und Verhaltensweisen mit der Puppe ausprobiert: „Kommt, wir bringen ihm bei, wie man sich begrüßt bei uns.“ Und die Puppe lernt gleich die eritreische Art und Weise kennen, sich mit den Schultern zu begrüßen. Andererseits merkt man schnell, dass diese Puppe mehr kann als ein Mensch, zum Beispiel fliegen, ein alter Traum des Menschen. Nestor sagt immer wieder: „Benutzt eure Phantasie!“ Dann begegnen sich zwei Puppen, begrüßen sich, tanzen zu einem entstehenden Rhythmus, kämpfen in der Luft miteinander wie in einem chinesischen Martial Arts Film und landen wieder auf dem Boden. Ja, wir brauchen unsere Phantasien und Ideen, wir brauchen etwas, dass wir erzählen wollen für das Puppentheater, für den Tanz, für das Hier und Jetzt und für unsere Zukunft. Und was ist das? Träumen wir vom Fliegen? Träumen wir vom Frieden? Reicht unsere Phantasie dafür aus? Es gab immer wieder Menschen, die vom Frieden geträumt und dafür gekämpft haben, für eine multikulturelle Gesellschaft, die die Hierarchien zwischen den Menschen aufhebt. Aber leider ist das nicht das dominante Lebensgefühl, das in Deutschland und dem Rest der Welt zur Zeit herrscht. Ist die Fähigkeit, sich voneinander berühren zu lassen in einer Haltung der Toleranz und Neugierde, in einem Feld des Miteinander und Nebeneinander, ist das Voraussetzung oder schon ein Ergebnis der kulturellen, kreativen, tänzerischen, sozialen Arbeit? Wahrscheinlich ist es beides und es gibt bestimmt viele Wege dorthin, aber eins ist wirklich klar: Es ist eine Arbeit, die optimistisch stimmt. Und: aufgeben gilt nicht.

In mir entsteht das Bild, wie wir als Gemeinschaft, als Gesellschaft durch unser aller Bewegungen, durch das Ziehen und Schieben im Miteinander, durch unsere Träume und Absichten, die wir da hineinlegen gemeinsam im Hier und Jetzt die Zukunft weben, ihr Gestalt und Bewegung geben wie einer Puppe, die anfängt zu fliegen und den Menschen vom Frieden erzählt.

Das Führen der Puppe an Stöcken, das Ausprobieren technischer Fähigkeiten, das Halten des gemeinsamen Fokus ist anstrengender als das intuitive Führen mit den Händen. Die Konzentration, die man aufbringen muss, ist auch erschöpfend. Und so sind alle am Ende eines langen Tages froh in den Genuss eines exklusiven Auftritts der Großpuppe DUNDU zu kommen, die vor dem Tomorrow Club Kiosk im Dortmunder Westen lebendig wird.

Durch ihr schlichtes Erscheinungsbild spiegelt sich etwas Unberührtes in ihr, vielleicht auch etwas von kulturellen Prägungen losgelöstes, wie eine pure menschliche Gestalt. Obwohl sie so groß ist, scheint die Puppe zart, wir geben ihr die Hand, lassen uns umarmen und staunen. Bald zeigt sie uns auch ihren anarchistischen Charakter. DUNDU stoppt die Autos auf der Straße, steigt ihnen auf die Kühlerhaube, und wir und eine Handvoll Passanten empfinden ein herrliches Vergnügen. Wie gut tut dieses Abweichen vom Alltag, wenn plötzlich eine fünf Meter große Puppe die Fahrzeugpapiere verlangt.

Das Theater und die Kunst haben diese einzigartige Qualität, unsere Gewohnheiten, ob es Seh-oder Denkgewohnheiten sind, auf den Kopf zu stellen und neue Blickwinkel und Gefühlsbereiche zu öffnen. Deshalb sind sie für die transkulturelle Arbeit auch so toll, weil wir durch sie neue Räume schaffen, in denen unsere Prägungen nicht in ihrer Gänze eine Rolle spielen. Wir finden neue Rollen, wir testen aus, wir beschnuppern uns und bilden gemeinsam neues transkulturelles Terrain, neue Theaterstücke und Tänze, neue Gesellschaften, einen neuen Frieden – oder? Dieses Terrain bestellen Menschen – wie Bauern ihr Feld –, die eine Bereitschaft mitbringen, sich berühren zu lassen und zu berühren, von nah und fern, körperlich und in Gedanken, im Herzen und mit ihrer Phantasie – für unsere gemeinsame Zukunft!

01.08.2019, Ein Workshopbericht von Lena Tempich
Foto Betty Schiel