Ein guter Gast
Performance
Nur einmal im Jahr macht das Sinn. Zwischen vier Uhr nachmittags und sieben. Vielleicht ein wenig früher und ein bisschen später, aber nicht länger. Seit vielen Jahren um diese Zeit, an diesem besonderen Tag, bin ich Gast – ein Unerwarteter Weihnachtsgast – in Häusern, die ich nicht kenne.
Klopf-klopf! Es ist wichtig zu klopfen. Klingeling über dem Sprechanlage funktioniert nicht. Es ist dann zu einfach, mich zu ignorieren, ich bin zu weit weg, so als ob ich aus dem Ausland telefonieren würde. Dabei geht es darum, mir in die Augen zu schauen. Nicht mit Hilfe der Kamera, sondern mit den eigenen Augen, dem linken und dem rechten. Man muss mir direkt gegenüberstehen, also erst einmal muss man den Mut haben, die Tür zu öffnen.
Ich mag Türen, ich brauche sie, sie bedeuten mir etwas. Ich schliesse eine Tür hinter mir, und dann bin ich zu Hause. Privat sein, also wie eigentlich sein? Es hat mich immer interessiert, wer wir hinter geschlossenen Türen sind. Welche Regeln setzen wir in unseren Häusern fest? Sind wir zu Hause wahrer? Was ist die häusliche Wahrheit über uns? Was für eine Gesellschaftsordnung herrscht in unseren vier Wänden, und wie bewährt sie sich? Was machen wir bei uns zu Hause auf unsere eigene Weise? Ist meine Wohnung ein Zufluchtsort, oder bin ich hier in einer Art Kriegszustand und versuche, mich zu behaupten? Die Wohnung. Ein keineswegs selbstverständlicher Raum. Was wird hier anders, wenn das Weihnachtsfest kommt?
Es ist Heiligabend. Ich stehe vor jemandes Tür. Ich bin ihm/ ihr fremd, und derjenige/ diejenige auf der anderen Seite der Tür ist mir fremd. Beide stehen wir gleichzeitig sowohl vor als auch hinter der Tür. Die Tür zu öffnen bedeutet, eine Begegnung möglich zu machen. Uns gegenseitig auf beiden Seiten vor die Schwelle zu stellen. Die Schwelle ist von Bedeutung, das ist eine wenige Zentimeter hohe Grenze zwischen Menschen, zwischen Kulturen und Mythen dieser Kulturen.
Als ich zum ersten Mal Weihnachtsgast war, blieben viele Türen trotz meines Klopfens geschlossen, obwohl hinter ihnen die Anwesenheit von Menschen zu hören war. Fast überall hörte man abgespielte, gesungene oder musizierte Weihnachtslieder beziehungsweise einen Fernseher. Häufig kam jemand an die Tür und betrachtete mich durch das Guckloch, das man in Polen den „Judas“ nennt. Ich wurde taxiert, und das ist nicht verwunderlich. Mich faszinieren die Funktionen von Glas und die damit zusammenhängenden Metaphern. Ein kleines Stück Glas in der Tür erlaubt es zu sehen, ohne gesehen zu werden, es ist eine Linse, ein Auge, ein Periskop. Es ist interessant, dass das Glas, aus Sand hergestellt, den man schliesslich jemandem in die Augen streuen kann, hilft, klarer zu sehen. In dem Wort Taxen (polnisch: Lustrieren) ist das Wort Spiegel (polnisch: lustro) enthalten. Betrachten wir uns selber in den Augen derjenigen, die wir betrachten? „Wer war das? - Niemand“ - war durch die Tür zu hören. An diesem Tag war ich mehrmals „niemand“. Und es schneite und war unangenehm. Feuchtigkeit und Kälte. Ich brauchte es, möglichst schnell zu lernen, wie man zu einem Weihnachtsgast wird, dem letztendlich die Tür geöffnet wird, und der vielleicht dann auch ein erfreulicher Gast ist. Ich lernte also schnell dazu. Es ist klar, dass ich Befürchtungen hatte, das braucht einen nicht zu wundern. Ich hatte keine Angst vor unbekannten Straßen, Gassen, Mietshäusern, schlecht beleuchteten Hausfluren, sondern ich fürchtete mich vor … Vor was eigentlich genau? Das Herz pochte mir, während ich vor Türen stand, hinter denen unbekannte Leute zu ihrem Weihnachtessen zusammensaßen oder gerade anfangen wollten. Ich wartete mit dem zum Klingeln bereiten Finger, um dann doch stattdessen zur nächsten Tür weiter zu gehen, zur übernächsten und zur überübernächsten … Erst an der fünften entschloss ich mich dann zu klingeln, aber danach schon an jeder weiteren, die ich in den nächsten Häusern auswählte, solange bis – wie das in Geschichten so kommt – sich eine von ihnen weit öffnete. Aber bevor irgendjemand vor mir die erste Tür öffnete, musste ich die ersten Worte finden. Die ersten Worte sind von Bedeutung. Ich habe sie gesucht und gefunden. Guten Abend! Ich wollte Sie fragen, ob auf ihren Tisch ein Teller für den Unerwarteten Gast bereitsteht?* Jjaa. Das ist der für mich bestimmte Teller.
Und dann schaut jemand mir in die Augen. In die Augen schauen ist von Bedeutung. Einmal ein- und ausatmend entscheidet dieser Jemand, nachdem er/sie sich entschlossen hatte, die Tür zu öffnen … soll er/sie mich einlassen oder nicht? Man hatte mich schon für eine Interviewerin gehalten, die der Priester geschickt hatte, um zu kontrollieren, was die Gemeindemitglieder von den alten Traditionen halten. Die Tür wurde nur einen die Länge des Türkettchens weiten Spalt geöffnet. Mehrmals hörte ich den Satz: „Ich kann Sie nicht einlassen, weil ich Sie nicht kenne.“ Zu diesem ersten Mal öffnete diese letzte Tür Frau Eva. Das war wirklich ihr Name. Sie feierte am Heiligabend ihren Namenstag. Bitte – sagte sie. Ich wusste es, und ich spürte es, dass genau sich in diesem Moment etwas ungewöhnlich Feierliches ereignete. Und ich überschritt die Schwelle. Als ich klein war, wartete ich immer auf den Unerwarteten Gast. Wer weiß? Vielleicht wird er gleich anklopfen? Das wäre vielleicht eine Überraschung! Ich wartete und wurde groß, aber … niemals … Und so wurde ich selber zu dem Unerwarteten Gast. Frau Eva bot mir Hausschuhe, einen heißen Tee und wohl zwölf verschiedene Gerichte an. Wir sprachen lange miteinander. Sie schenkte mir Vertrauen und befestigte mein Vertrauen in die Menschen. Ohne sie wäre ich nie ein Unerwarteter Gast geworden. Ich war schon so erschöpft, dass ich an keine weitere Tür mehr geklopft hätte. Vielleicht hätte ich es in einem weiteren Jahr noch einmal versucht, aber vielleicht hätte ich es auch aufgegeben? Indem sie mir ihre Tür aufmachte, öffnete Frau Eva vor mir weit mehr. Beide spannen wir unsere gemeinsame Geschichte. Und so entstand meine weihnachtliche Tradition, obwohl ich nicht an Gott glaube. Dafür glaube ich an die Menschen und ich praktiziere das. Als ich zum ersten Mal Weihnachtsgast wurde, war ich erst dabei zu lernen, ein solcher zu sein. In den nächsten Jahren war es schon einfacher. Ich hatte ja schon die ersten Worte, und ich war ruhiger und konzentrierter. Ich wusste besser, warum und wozu ich das tue. Warum stellte ich mich selbst, meine Vorstellungen, Ängste, Hoffnungen und meinen Glauben auf die Probe? Heute, wenn ich am 24. Dezember eine unbekannte Straße entlang gehe, zögere ich oft, aber nicht aus Angst, sondern um ein Gespür für die Situation zu bekommen. Wie ein Tier, das ich ja bin. Ich merke langsam, wo ich abbiegen soll und ob ich weitergehen soll oder zurückgehen. Mich leiten meine Beine, meine Augen und Ohren – und was noch? Meine Intuition? Sicher schon. Ich weiß, vor welcher Tür ich anhalten soll, weil ich das spüre, und meistens öffnen sie sich. Ich nenne das unzufällige Zufälle, dieser Gedanke ist mir lieb.
Meine Weihnachtsgeschichten aus der Hauptstadt und aus anderen Städten und Kleinstädten, aus diesem und jenem Dorf sind meine Schätze, meine, eines ungläubigen Menschen, Heiligenbilder. Ich sammele sie, aber ich baue mir keine Sammlung auf. Sie leben in mir, ändern mich, geben mir Kraft und vibrieren in mir, und manchmal erzähle ich sie. Wenn ich mich mit unbekannten Menschen zum Weihnachtsmahl an den Tisch setze, werde ich oft gefragt, wie mir das in den Sinn gekommen ist. Ich sage dann, dass es eher ein Bedürfnis ist und erzähle, wo dieses Bedürfnis herrührt, und ich erzähle meine Weihnachtsgeschichten. Wir sprechen über den leeren Teller und über leere Gesten. Über Wanderer und Fremde und über die in alten Zeiten am Weihnachtsabend zu Tisch gebetenen Seelen der Verstorbenen. Darüber, ob man einen Mann ins Haus lassen würde, und dazu noch einen Obdachlosen oder Flüchtling. Wir sprechen über das Vertrauen zu den Menschen und über das häufig in Vergessenheit geratene Bedürfnis, Menschen vertrauen zu können. Es kommt auch vor, dass wir über das vorchristliche Fest der Wiederkehr des Lichtes sprechen, über die Wintersonnenwende und über die Hoffnung auf einen neuen Frühling. Wir sprechen füreinander gute Wünsche aus, und manchmal singen wir Weihnachtslieder und reden nicht viel. Bislang hat mich nie jemand nach meinen politischen Ansichten, nach meiner sexuellen Orientierung oder nach meinem religiösen Bekenntnis gefragt. Ich werde danach gefragt, ob ich eine Familie habe und danach, wie meine Familie meine Abwesenheit am Heiligabend hinnimmt. Ich sage dann, dass meine Angehörigen meine Tradition akzeptieren und mit dem Weihnachtsmahl auf mich warten. Wir fangen damit an, wenn schon alle Sterne am Himmel sind. Ich habe meine Weihnachtsgeschichte jedes Jahr in ein neues Haus gebracht – jetzt bringe ich sie in viele Häuser auf einmal. Euch, die ihr mich in euren Häusern aufgenommen habt, bitte ich um Verzeihung, dass ich euch nicht um Zustimmung gebeten habe. Als ich an eure Türen klopfte, bin ich der Stimme meines Bedürfnisses gefolgt, das war keine Idee für eine Reportage. Nach Jahren habe ich mich entschlossen, etwas über unsere Begegnungen niederzuschreiben. Man hat mich davon überzeugt, dass es von Wert ist.
Und jetzt ein paar der Heiligenbildchen meiner Besuche, ohne Einhaltung der Zeitfolge. Ich hoffe, dass ihr, die ihr mich in eure Häuser aufgenommen habt, die Form dieser Beschreibung akzeptieren werdet.
Der erste. Das war so: in einem breiten Sessel ein schmaler Hausherr. Er war wohl erschöpft, oder vielleicht hatte er auch zum Wohl des Jesuskindes etwas getrunken. (Und das Jesuskind war ja wohlauf geboren worden!) Plötzlich wacht er auf und fragt, auf die Frau am Tisch weisend: „Also ist die Tante doch gekommen? Sie hat gesagt, sie kommt nicht“. Die Frau des Hauses hatte nicht die Absicht, ihren Mann darüber aufzuklären, dass es sich bei der Tante um einen Weihnachtsgast handelte. Das einzige, was sie sagte, war: „Schlaf, schlaf mein Schatz, du musst ausruhen“. Gegenüber der Frau saß der Sohn des Paares. Saß da, schaute mich an und machte den Eindruck, er könne nicht glauben, was er sieht. Ein Weihnachtsgast? Bei uns? Und es ist keine versteckte Kamera?
Die Frauen unterhielten sich am Tisch, und unter dem Tisch stellte der junge Mann seine Fragezeichen. Von Zeit zu Zeit tippte er mit seinem Fuß das Bein der Unbekannten an, so als ob er sichergehen wollte, dass sie aus Fleisch und Knochen sei. Und obwohl er bestätigt wurde, verfiel er nach kurzer Zeit wieder in Zweifel. Ein oder zweimal entglitt ihm dabei ein kurzes nervöses Kichern, aber es war so ruhig, angenehm und gut an diesem Tisch, dass sich seine Nerven letztendlich entspannten. Die ganze, dreiköpfige Familie feierte auf die einfachstmögliche Weise, und als die Zeit zu Ende ging, stand die Unbekannte auf, ging zum reich geschmückten Weihnachtsbaum, hinterliess unter ihm ein kleines Geschenk und dankte der Frau des Hauses gerührt für das Öffnen ihrer Tür und die Offenheit ihres Herzens. Der Junge wollte den Gast unbedingt noch ein Stückchen begleiten, sie verließen also gemeinsam das Haus und hängten die verbliebenen Geschenke an die Türklinken der nächsten Häuser. Und das war gut. Und dann umarmte er sie wortlos zum Abschied. Das war das einzige Mal, dass sie sich begegnet sind.
Der zweite. An dem vorhergehenden Winter trug es sich zu, dass sie an die Tür einer Familie klopfte, die vor einer Stunde aus dem Krankenhaus zurückgekommen war, in dem ihr schwerkranker Sohn lag. Im Haus herrschte mehr aussagekräftiges Schweigen als Gespräch. Und als die Mutter des Jungen sagte: „Es ist für uns ein gutes Zeichen, dass Sie am Heiligabend unser Haus gewählt haben.“, brachen beide in Tränen aus. Für sie war es auch ein Zeichen.
Der dritte. Als der Schnee kniehoch lag, war es so: Sie klopft an, und die Tür ist leicht geöffnet, etwas verwundert tritt sie ein und ruft „Guten Abend“, und beim Erscheinen einer langhaarigen Frau fragt sie diese nach dem freien Teller. „Ja, ja, gleich, sofort!“, und die Frau lädt sie ein, hereinzukommen und führt sie in ein Zimmer, wo ihr älterer Sohn in Eile dabei ist, den Weihnachtsbaum zu schmücken, wonach sie das Zimmer verlässt. Der Tisch ist noch nicht gedeckt, nichts ist fertig. Die Frau und ihre beiden Söhne sind fieberhaft beschäftigt. Alle sind gerade erst von der Arbeit gekommen. Der Unerwartete Gast war von unerwartetem Nutzen. Sie half, den Baum zu schmücken, während der ältere Sohn plötzlich einen schnell ansteigenden Fieberanfall bekam. der Schweiß trat ihm auf die Stirn und brach ihm aus allen Poren, er begann zu zittern. Da war ihre Zeit schon abgelaufen, sie musste sich auf den Weg machen, man wartete auf sie. Die Frau des Hauses wollte davon nichts hören. „Wenn es so ist, müssen Sie unbedingt während der Feiertage vorbeikommen. Unbedingt!“ - sagte sie. Wohl zum ersten Mal in der Geschichte kam der Unerwartete Gast am zweiten Feiertag zu Besuch, dazu noch in Begleitung. Da stellte sich heraus, dass das Fieber des Sohnes vor zwei Tagen nicht durch eine Krankheit hervorgerufen worden war , sondern durch den Schock der nie dagewesenen Situation.
Der vierte. Am Rande des Waldes wohnte eine Familie, die genau in dem Moment des Erscheinens des ersten Sternchens am Himmel, trotz aller Bemühungen dies nicht zuzulassen, in einen Streit verfallen war. Die verletzenden Worte waren noch nicht verraucht, als das Klopfen an der Tür erklang. Die Frau des Hauses lud den Unerwarteten Gast ein, hereinzukommen. Ja, sie tat das. Ihr Enkelchen kletterte dem Gast auf den Schoß und ließ sich mit Borsch und Piroggen füttern. Der Herr des Hauses saß derweil einsam in seinem Zimmer und verdaute etwas völlig anderes als die Suppe, wie übrigens die anderen Hausbewohner auch. Der Gast blieb nicht lange, es wurde nämlich Zeit, diese Familie sich selbst zu überlassen. Allerdings nicht ganz sich selbst. Das Kind, dessen Blick, Lächeln, Berührung, ja, seiner Anwesenheit die Liebe selbst ist, sollte ja gleich geboren werden.
P.S.: Ich grüße euch alle, meine Lieben, die ihr mich unter euer Dach gelassen habt, auch das Junge Mädchen, das mich erst einmal der gesamten, zahlreichen am Tisch versammelten Familie vorstellte und dann noch dafür sorgte, dass ich ein Geschenk bekam. Ich habe es noch. Es steht an einem sichtbaren Platz. Ich grüße den Etwas-Über-Zwanzigjährigen, der mir gerührt dankte und sagte, er würde es nie vergessen. Ich werde es auch nie vergessen und danke auch. Ich grüße auch ein bestimmtes Geschwisterpaar: den einsam lebenden Bruder, der dabei war, sich vor dem Besuch bei seiner Schwester zu rasieren und mir erklärte, wo die Schwester wohnt, mit dem Hinweis, dort würde ich bestimmt eingelassen werden. Und ich wurde eingelassen, und die Schwester sagte zum Abschied zu ihrem Enkel: „Jetzt wirst du etwas beim Religionsunterricht zu erzählen haben.“ Ich grüße den Mann, der mir mit den Worten Mut machte: „Ich lade Sie ein, aber erst in zwei Wochen, wir sind nämlich orthodox.
Anmerkung: Es ist in Polen Sitte, dass der Tisch zum Weihnachtsmahl mit einem überzähligen Gedeck gedeckt wird, das, wie es heisst, für den Unerwarteten Gast bereitsteht.